Besseres Zeitmanagement für Ärzt:innen

Interview mit Arzt & Buchautor Dr. Alexander Ghanem

„Aktuell gibt es keinen Schmerzpunkt, also arbeite ich einfach länger, die Patienten müssen ja versorgt werden“ – damit trifft Prof. Dr. Ghanem das Dilemma ärztlichen Zeitmanagements im Kern. Doch der Schmerzpunkt kommt – oft zu spät für die eigene Gesundheit, privates Glück oder auch die Karriere. Prof. Ghanem hat mit seinem Buch „Die Anatomie der Zeit“ einen sehr praktischen Ratgeber für das Zeitmanagement speziell von Ärzt:innen vorgelegt. Einige Tipps daraus, verrät er im Interview. 

Es kann sein, dass ich den ganzen Tag extrem busy war, aber nichts Wichtiges geschafft habe – die sogenannte Dringlichkeitsfalle.

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Professor Dr. med. Alexander Ghanem

Seit 2019 ist Prof. Ghanem Chefarzt der Kardiologie und Internistischen Intensivmedizin in der Asklepios Klinik Nord in Hamburg. Zuvor war er 10 Jahre an einer Uniklinik tätig und dann weitere 6 Jahre als leitender Oberarzt einer Hamburger Maximalversorgungsklinik. Außerdem ist er glücklich verheiratet und Vater dreier Kinder. Die wachsende Komplexität der Vereinbarkeit von Arztberuf und persönlichem Glück hat ihn zur Arbeit an seinem Buch Anatomie der Zeit motiviert, das im November 2021 bei hogrefe erschienen ist.

Warum haben Sie sich mit dem Thema Zeitmanagement befasst?

Das war eine Selbstreflektion. Ich wollte verstehen, was ich besser machen kann, um weniger Stress zu empfinden. Für mich gab es einen Wendepunkt, als ich auf die Intensivstation rotiert bin. Das war damals im 3-Schichtsystem, parallel haben wir eine Arbeitsgruppe aufgebaut, ich habe meine heutige Ehefrau kennengelernt und es war medizinisch sehr neu. Es kamen also mehrere Dinge zusammen.

Und mir ist aufgefallen, dass es Kollegen gab, die das alles gut organisieren konnten, während ich so meine Probleme hatte. Ein Kollege ist bei einer Agentur gewesen, die sich damit beschäftigte, wie man seine Zeit besser einteilt. Er hat mir den einen oder anderen Tipp gegeben und das bisschen Zeit, das ich in mein Selbstmanagement investiert habe, hat sich ausgezahlt und mir Kontrolle zurückgegeben.

Warum ist gutes Zeitmanagement für Ärzt:innen eine besondere Herausforderung?

Im Studium wird man sehr an die Hand genommen. Und danach ist da plötzlich dieser freie Raum. Man kann und muss sich den Tag selbst organisieren, eigene Schlussfolgerungen aus der Patientengeschichte ziehen. Das ist ein richtiger Systemwechsel.

Ich habe erst mit der Zeit gemerkt, dass es Meilensteine am Tag gibt, um die ich meine Arbeit herumorganisiere, beispielsweise meine Visite. Je früher ich die mache, desto früher kann ich nachgeschaltete Prozesse anstoßen, um den Patienten weiterzubringen. Das ist mir in den ersten Monaten gar nicht so klar gewesen. Stattdessen habe ich mich mit dem Dringlichen aufgehalten.

Wenn die Arbeit bis 17 Uhr nicht getan ist, dann bleiben wir halt länger.

Wird Zeitmanagement im Studium oder Kollegenkreis thematisiert?

In der Regel nicht. Anfangs schieben Sie es auf sich selbst: Ich bin langsam, weil ich mich fachlich noch nicht so auskenne. Wenn man dann richtig eingearbeitet ist, weiß ich nicht, ob man sich damit so schnell an die Oberfläche wagt – das Feld ist ja sehr kompetitiv.

Und wir so sozialisiert, dass, wenn die Arbeit bis 17 Uhr nicht getan ist, dann bleiben wir halt länger. Das wird uns von unseren Vorgesetzten so vorgelebt und bei denen war es auch schon so – die Patienten müssen ja versorgt werden. Also werden die Tage immer länger und im Moment tut das nicht so weh. Erst später kommt heraus, dass man zu wenig Zeit hatte für seine Familie, für Selbstfürsorge.

In Ihrem Buch geht es um das Jonglage-Modell für die ärztliche Zeitplanung – was ist die Zielsetzung?

Bei der Jonglage geht es darum, keinen Ball fallen zu lassen. Diese Bälle sind symbolisch für die verschiedenen Lebensbereiche. Ich nehme gerne vier:

  1. Karriere & Beruf,
  2. Beziehung & Familienleben,
  3. Gesundheit – körperlich wie auch seelisch
  4. Reflektion oder Sinnstiftung

In jeder Lebensphase muss man einen Ball mal etwas höher werfen als die anderen. Nach dem Studium wird der Karriereball extrem hochgeworfen und die anderen etwas flacher gehalten. Das ist okay. Entscheidend ist, sich immer wieder darauf zu besinnen, dass alle Bereiche wichtig sind und diese bewusst einzutakten. 

Gleichzeitig ist das Jonglage-Modell eine Art Filter. Wenn Dringliches an mich herangetragen wird, frage ich: Was davon ist bezüglich meiner Karriere, Beziehungswelt, Gesundheit oder Reflektion überhaupt wichtig? Das verhindert, dass man am Ende nur mit Dringlichkeiten jongliert. Es gibt interessante Bücher dazu, was Sterbende bereuen. Das dreht es sich immer um die vier Beziehungsbälle. Also die immer wieder richtig hochwerfen. 

Die Anatomie der Zeit

„Zeitdruck, Stress, Depression und Burnout, das ist die Spirale, in die junge Ärztinnen und Ärzte sich begeben, wenn sie ohne persönliche Arbeitsmethodik die komplexer werdenden Aufgaben zu erfüllen versuchen. Aber auch für Ärzte hat der Tag nur 24 Stunden – und auch sie haben eine Sehnsucht nach Glück in und jenseits der Klinik. Das ist möglich. Mit einem Selbstmanagement, das die besonderen Herausforderungen in medizinischen Berufen berücksichtigt. Prof. Dr. Alexander Ghanem hat dazu ein Jonglage-Modell entworfen, welches darauf abzielt, das Leben mit Freude zu gestalten.“ – Quelle: www.anatomiederzeit.de

Wie unterscheidet man denn im Alltag das Wichtige von dem Dringlichen?

In der Regel ist es so, dass das Wichtige aus einem selbst heraus kommt. Ein gutes Familienleben zu führen, Sinn zu stiften oder gesund zu bleiben, sind typische wichtige Dinge. Niemand stößt mich mit der Nase auf die wichtigen Themen. Keiner sagt mir ‚Geh mal laufen‘, oder ‚Bring deine Kinder ins Bett‘. All sowas muss ich mir immer wieder vornehmen, nachhalten und dankbar sein, wenn es geklappt hat.

Signifikanz von Wichtigem und Dringlichem im Lebensverlauf

Quelle: Prof. Dr. Ghanem

Dieses Wichtige ist sehr subtil und es kann sein, dass ich den ganzen Tag extrem busy war, aber nichts Wichtiges geschafft habe – die sogenannte Dringlichkeitsfalle. Das Dringliche, das mir von außen angetragen wird, hält mich vom Wichtigen ab. Das Problem ist, dass das Wichtige irgendwann auch dringlich wird.

Was wäre der erste Schritt, um die eigene Zeitplanung zu verbessern?

Beginnen Sie damit, eine typische Arbeitswoche zu skizzieren, also den Tag in vier Viertel aufzuteilen und aufzuschreiben, was Sie jeweils gemacht haben. Wieviel davon war Karriere, wieviel Beziehung, wieviel Gesundheit, wieviel Sinnhaftigkeit? Was davon ist mir wirklich wichtig? Einfach mal übereinanderlegen, womit ich meine Woche verbracht habe und womit ich sie gerne verbracht hätte. Und wenn da ein großes Delta ist, muss ich etwas ändern.

Zum Beispiel: Ich sehe, ich beantworte 2 Stunden am Tag E-Mails und bin 3 Stunden auf Social Media. Diese 5 Stunden kann ich umorganisieren, z. B. beides nur noch zweimal am Tag checken und in einer halben Stunde muss der Drops gelutscht sein. Schon habe ich Zeit gespart. Also das Dringliche im Zaum halten und das Wichtige in einen guten Kontext bringen. 

Wie sieht das Wichtige in einen guten Kontext Bringen konkret aus?

Ich schreibe mir ab und zu auf, womit ich meine Tage verbringe, um das dann umzuordnen, dem Wichtigen eine Zeit zu geben – am besten morgens – und das Dringliche in Fenster zu zwängen, damit es sich nicht zu sehr ausbreitet. Wir haben zum Beispiel kleine Kinder und versuchen morgens gleich ein paar wichtige Dinge zu tun, die man sonst vor sich herschiebt bis in den Abend, wenn man völlig zerschossen ist. 

Es gibt ja Wichtiges, für das man einen freien Kopf und viel Energie braucht, klassischerweise: die Doktorarbeit schreiben. Stellen Sie den Wecker etwas früher und kümmern Sie sich morgens eine Stunde lang nur darum. Und zwar jeden Tag. Nach einer Zeit empfindet man Glück dabei zu sehen, wie die Arbeit substantiell vorangekommen ist, und es beugt Frustration vor. Freitagabend, schon wieder nichts an der Doktorarbeit gemacht, geht jetzt wieder das Wochenende dafür drauf – das wird irgendwann so frustrierend, dass ich gar nicht mehr an mich glaube und es hinwerfe.

Blenden Sie den Frust über Dinge, die Sie nicht beeinflussen können, aus.

Was können Ärzt:innen direkt umsetzen, um Stress zu reduzieren?

Es gibt Stressfaktoren, die ich beeinflussen kann, andere wiederum nicht. Wenn Sie Ihre Woche aufschreiben, notieren Sie auch, was Sie glücklich gemacht und was Sie frustriert hat. Da werden Sie Sachen entdecken, auf die Sie keinen Einfluss hatten. Mir persönlich hat das sehr geholfen, Abstand zu nehmen.

Es gibt ein Modell von Stephen Covey, da ist der Einflussbereich ein innerer Kreis in einem viel größeren äußeren Kreis, dem Interessenbereich. Pünktlich nach Hause zu kommen, liegt in meinem Interesse. Auf vieles, was mich daran hindert, habe ich keinen Einfluss, auf einiges aber schon. Ich kann mich z. B. so organisieren, dass ich weniger vergesse oder, wenn ich meinen Oberarzt mal neben mir habe, ihm ganz strukturiert all meine Fragen stellen kann. Da liegt es an mir, die Fragen parat zu haben. Blenden Sie den Frust über Dinge, die Sie nicht beeinflussen können, aus und weiten Sie Ihren Einflussbereich aus. Zu merken, dass ich mich besser organisieren kann, hilft, mit Stress umzugehen.

Wie gelingt es, gedanklich abzuschalten?

In der Freizeit nicht über Medizin sprechen, hilft. Was in meinen Augen auch sehr gut tut, ist ein bisschen Distanz zum Beruf aufzubauen. Es ist ein schöner Beruf und der erfüllt einen ja auch sehr, aber am Ende ist es eben ein Beruf. Unsere Tochter ist jetzt eingeschult worden. Da habe ich gemerkt, wie sehr einen das als kleines Kind mitnimmt. Nur weil wir in der Medizin große Probleme lösen dürfen, bedeutet das nicht, dass es anderswo nur kleine Probleme gibt. Auch unsere Partner, Kinder und Freunde bedürfen unserer Interaktion. Mir hilft es sehr abzuschalten, wenn ich mich um diese Dinge kümmere. 

Im Urlaub muss man richtig abschalten. Da halten einen E-Mails gedanklich bei der Arbeit. Dafür braucht es ein System, durch das Sie niemanden gefährden. Wir machen das z. B. so: Einen Monat vorher schreibe ich in meine E-Mail-Signatur in Rot „Ab dem Soundsovielten gehe ich in Urlaub“. Dann wissen alle, wenn sie irgendetwas mit mir vorantreiben wollen, muss das bis dahin geschehen sein. 

Und ich bespreche mit den Mitarbeitern, dass ich E-Mails nicht checke, aber wenn es etwas Wichtiges gibt, können Sie mir eine SMS schicken. Da darf man sich auch nicht zu wichtig nehmen, man muss es nur gut organisieren.

Im Urlaub muss man richtig abschalten.

Gibt es auch technische Hilfsmittel für gutes Zeitmanagement?

Die Digitalisierung ist ein Hilfsmittel, um zu unseren Zielen zu kommen. Man muss sich nur zuerst über die eigenen Ziele im Klaren sein, dann können diese Technologien extrem helfen, Dinge schneller zu erledigen und sich besser zu organisieren. Ich denke z. B. an Zeitmanagement-Software. Man muss nur aufpassen, dass man da nicht wieder nur die dringlichen Dinge einträgt.
 
Was würden Sie Ihrem jüngeren Ich raten?

Gute Frage, das habe ich mir oft überlegt. Wir haben, typisch Akademiker, sehr spät erst unsere Kinder bekommen. Das hätte ja schief gehen können – Stichwort: unerfüllter Kinderwunsch – aber es ist gut gegangen. Rückwärts bin ich deshalb sehr dankbar und ich bereue auch nichts. Man muss sein eigenes Tempo laufen. Wenn ich das nicht so gemacht hätte, wäre ich vielleicht auch unglücklich gewesen. Ich finde es nur wichtig, das bewusst zu tun.

Zu jeder Lebensdekade müssen die Sachen mitgewachsen sein. Wenn wir dann keine Kinder gehabt, aber gewollt hätten, hätten wir Meilensteine verpasst, die uns wichtig gewesen wären. Genauso ist es mit dem Professorentitel. Mit 45 kann man sich das noch so sehr wünschen, das ist dann aber nicht mehr hinzubekommen. Planung ist wichtig. Die Pläne werden zwar eh wieder zerschossen, aber dadurch reflektiert man regelmäßig, was ist jetzt an der Reihe und was gerade weniger und kann man sein Tempo gut laufen. 

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Regina Phalange
Seit Anfang 2021 geht die Content Spezialistin für medflex auf die Pirsch nach spannenden Themen aus den Bereichen eHealth und Telemedizin. Ihr Schwerpunkt liegt auf den praktischen Einsatzmöglichkeiten und der Implementierung neuer Technologien in der Praxis.

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Professor Dr. med. Alexander Ghanem

Seit 2019 ist Prof. Ghanem Chefarzt der Kardiologie und Internistischen Intensivmedizin in der Asklepios Klinik Nord in Hamburg. Zuvor war er 10 Jahre an einer Uniklinik tätig und dann weitere 6 Jahre als leitender Oberarzt einer Hamburger Maximalversorgungsklinik. Außerdem ist er glücklich verheiratet und Vater dreier Kinder. Die wachsende Komplexität der Vereinbarkeit von Arztberuf und persönlichem Glück hat ihn zur Arbeit an seinem Buch Anatomie der Zeit motiviert, das im November 2021 bei hogrefe erschienen ist.